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Unterprivilegierte chancenlos

Bildungszugang in Indien stark von sozialer Herkunft abhängig

  • Thomas Berger, Delhi
  • Lesedauer: 3 Min.
Hätte Indien bei der aktuellen PISA-Studie teilgenommen, es hätte im Bereich Chancengleichheit sicherlich einen der hintersten Plätze belegt. Auf dem Subkontinent macht sich der Zugang zur Bildung auch 60 Jahre nach der staatlichen Unabhängigkeit noch immer überaus stark an der Kastenzugehörigkeit fest. Jüngste Untersuchungen belegen dies mit aufrüttelnden Zahlen.

Wer in einem indischen Dorf ein Haus der Dalits (Kastenlosen) betritt, kann in fast zwei Drittel der Fälle davon ausgehen, dass von den anwesenden Mädchen und Frauen über 15 Jahre niemand lesen und schreiben kann. Nimmt man den männlichen Teil der Familie hinzu, halbiert sich dieser Wert zwar. Fakt bleibt aber, dass in 32,7 Prozent der ländlichen Dalit-Haushalte die erwachsene Analphabetenrate trotz aller Bemühungen noch immer bei 100 Prozent liegt. Lediglich die jüngeren Kinder besuchen mit etwas Glück die Dorfschule, um vielleicht einmal dem frustrierenden Kreislauf von Unbildung und Armut zu entrinnen.

Genauso schlimm wie bei den Dalits, am untersten Ende der hinduistischen Kastenleiter stehend, sieht es mit den Adivasis (Ureinwohnern) in der Bildungsstatistik aus. Die Gruppen, die nach dem Sprachduktus der indischen Administration zusammenfassend unter Scheduled Tribes (»Registrierte Stämme«) geführt werden, bringen es in den ländlichen Gebieten, wo sie konzentriert sind, sogar auf einen traurigen Rekord von 38,1 Prozent Haushalten ohne erwachsene Familienmitglieder, die nicht wenigstens kurzzeitig eine Schule besucht haben. Das gleiche Bild ergibt sich bei der Aufsplitterung nach Geschlechtern: Nur die Frauen betrachtet, sind es mit 61,9 Prozent ebenfalls noch etwas mehr als bei den Dalits (60,5).

Wie das zweiwöchentlich erscheinende Politmagazin »Frontline« in Auswertung der 2004/05 von der Nationalen Statistikbehörde erhobenen und unlängst veröffentlichten Daten darstellt, tritt das Land betreffs mehr Gleichberechtigung der einzelnen Bevölkerungsgruppen hinsichtlich Bildungschancen fast auf der Stelle. Ganz eindeutig hängt der Zugang zu Schulen mit dem Leben auf dem Land oder in der Stadt zusammen. Haben selbst Niedrigkastige, Dalits und Adivasis in den großen Metropolen gewisse Aussichten, wenigstens in Grundzügen Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, gibt es in den Dörfern ungeachtet aller Anstrengungen weitaus weniger Angebote. Dass Mädchen und Frauen doppelt stark betroffen sind, illustrieren die vorliegenden Zahlen ebenfalls in schonungsloser Klarheit.

Auch von vielen indischen Politikern wird fast mantraartig in der öffentlichen Darstellung betont, dass Bildung der Schlüssel zu Entwicklung ist. Wie begrenzt aber bisherige Erfolge sind, hat die Statistikbehörde in aller Deutlichkeit erfasst: Der Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen ist selbst in den großen Städten den meisten Vertretern der unteren Kasten und Gruppen verschlossen. Lediglich 6,6 Prozent männlicher Dalits haben einen höheren Schulabschluss, bei den Frauen aus dieser Kategorie sind es gar nur magere 3,9 Prozent. Mit 10,8 beziehungsweise 7,4 Prozent stehen die Adivasis in diesem Fall nur wenig günstiger da, während unter den Hochkastigen jeder vierte Mann (23,8 Prozent) und immerhin 18,2 Prozent der Frauen auf einen solchen Abschluss von mindestens Abiturstufe verweisen können. Im hauptstädtischen Territorium von Delhi ist diese Diskrepanz besonders auffällig: 32,9 (Männer) und 26,9 Prozent (Frauen) bei den sozial Bessergestellten stehen lediglich 5,5 Prozent und 1,3 Prozent Dalits mit höherer Bildung gegenüber.

Der Autor des »Frontline«-Beitrages hat wie Kollegen in Texten anderer Medien zu diesem Thema eine Ursache schnell ausfindig gemacht: Das mit den Jahren immer weiter verfeinerte Quotensystem, das für mehr Gerechtigkeit sorgen soll, weist gravierende Lücken auf. So mögen in nackten Prozentzahlen den benachteiligten Gruppen wie Dalits und Adivasis sowie in manchen Fällen der muslimischen Minderheit zwar ausreichend Plätze an den weiterführenden Bildungseinrichtungen garantiert sein. Oft werden diese Quoten aber gar nicht erfüllt, weil den Familien der registrierten Kandidaten die notwendigen finanziellen Mittel fehlen, um das Schulgeld zu bezahlen. Regierungskritiker sehen allerdings etliche Möglichkeiten, Geld aus ohnehin schwerfälligen Förderprogrammen für die besagten Gruppen so umzuleiten, damit deren Angehörigen von sämtlichen Ausgaben zum Erreichen einen höheren Bildungsabschlusses befreit werden können. Um die bis 2015 gesteckten Millenniums-Entwicklungsziele auch im Bildungssektor zu erreichen, bleibt für die indische Politik somit noch einiges zu tun.

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